Lied für Hilde

Manchmal lauerte Oma Hilde mir nach der Schule im
Treppenhaus auf. Sie hatte ihre köstlichen Reibekuchen für
mich gebacken. Nur für mich, mein Bruder war ihr zu wild
und meine Schwester zu klein. Während ich die knusprigen
Puffer in mich reinstopfte und den Geschmack von Kartoffeln
und Rübensirup auf der Zunge spürte, sah sie mir aus
kleinen, wimpernlosen Augen dabei zu.
Ihr Haar trug sie wie eine griechische Witwe: blauschwarze
Wellen mit einem silbernem Streifen am Ansatz. Wenn er zwei
Finger breit geworden war, verschwand dieser Streifen für
ein paar Wochen. Sie kleidete sich mit schlichten,
unförmigen Röcken, fessellose Beine steckten in hellen
Nylonstrümpfen, bestrumpfte Zehen lugten aus offenen
Hausschuhen.
Ich kaute und schluckte. Ich leckte mir die fettigen
Finger ab und dachte an meinen armen Bruder und an
meine arme Schwester, die nichts davon bekommen sollten und
an meine arme Mutter, die nie lernen würde, solche
Reibeplätzchen zu machen. In meinem Bauch wuchs ein fester
Klumpen.
Später dachte ich mir Ausreden aus, wenn meine Oma mir
wieder auflauerte. Murmelte „Diät“ oder „Magenvirus“ und
huschte, zu Boden blickend, an ihr vorbei. Ich spürte ihren
enttäuschten Blick in meinem Nacken.
Ich besuchte meine Oma gerne, ihre kleinen dunklen Räume
waren vollgestopft mit zu großen, schweren Möbeln und es
duftete nach 4711 und grüner Fa-Seife. An den Wänden und
auf Ablagen naive Bilder von Engeln und der Heiligen Maria
neben der schaurigen Skulptur des gekreuzigten Jesus. Dazu
ausgekochte Jagdtrophäen von Rehböcken. Ab Sendebeginn lief
das ZDF und das Wenige, was meine Oma von der Welt wissen
wollte, ließ sie sich von der Drehscheibe, Wim Thoelke oder
Dieter Thomas Heck erklären.
Einmal, ich muss fünf Jahre alt gewesen sein, hatte ich
irgendwo ein Hakenkreuz gesehen. Ich malte Dutzende davon
mit größter Sorgfalt auf mein Malpapier. Meine Mutter sog
scharf die Luft durch ihre Zähne, als ich ihr mein Werk
zeigte. Ich spürte, dass ich auf etwas Großes gestoßen war.
Ihre Erklärung mit ernstem Gesicht bestand vor allem aus
„ganz, ganz schlimm“, „Hitler“ und „Krieg“.
Ich war begeistert von der Wirkung meiner Zeichnungen und
wollte herausfinden, wie meine Oma darauf reagieren würde.
Sie blieb enttäuschend unbeeindruckt. Ich versuchte, ihr
auf die Sprünge zu helfen, wiederholte die Erklärungen
meiner Mutter. Da sagte sie ohne Ironie, mit feierlichem
Ernst: „Bei Hitler war nicht alles schlecht. Ohne ihn gäbe
es keine Autobahn!“.
Wenn meine Eltern gemeinsam ausgingen, passte meine Oma auf
uns auf. Das bedeutete länger aufbleiben und fernsehen.
Mainzelmännchen und vielleicht die ZDF-Hitparade.
Sie betrachtete uns, wie wir fröhlich unsere Limo
schlürften. „Eine Mutter bleibt bei ihren Kindern“, sagte
sie und schüttelte finster ihren Kopf.
Zwar kamen meine Eltern jedes Mal gesund zurück. Aber in
jenen Nächten erwachte ich immer mit rasendem Herzen.
Unsere große Wohnung lag verlassen in dunkelgrauer Stille.
Im Schlafzimmer meiner Eltern gähnte mich das leere und
riesige Ehebett an. Der schwache Duft nach meiner Mutter
und die Kuhle im Kopfkissen meines Vaters ließen mich
winzig klein fühlen. Ich habe es nie geschafft, mich in den
Schlaf zu weinen.
Einmal beschloss ich in einer solchen Nacht, ins Bett
meiner Oma zu kriechen. Ich betrachtete sie, nachdem ich
zuvor die schwere Schiebetür aus Glas geöffnet hatte und
die große Treppe hinuntergeschlichen war. Diese schlafende
Frau dort im Bett war mir so fremd. Ich verließ das Zimmer
auf Zehenspitzen.
An Heiligabend besuchte unsere ganze Familie meine Oma. Es
gab Plätzchen und Limo und Sekt. Hilde setzte sich an ihr
verstimmtes Klavier und spielte pathetisch und schleppend.
Sie bekam rote Bäckchen und feuchte Augen und strahlte. Ihr
zittriger Sopran brachte uns zum Kichern.

Nachdem wir alle schon längst nicht mehr unter einem Dach
lebten, lag sie in einem Bett im Pflegeheim. Wir hatten uns
seit Jahren nicht mehr gesehen und es wurde Zeit, sie zu
besuchen. Ihr Haar trug sie jetzt länger und schneeweiß,
ihr Gesicht war durch die Medikamente und das Liegen größer
geworden und sie sprach nicht mehr. Ihre unruhigen Augen
folgten mir durch den Raum – zuerst misstrauisch
zusammengekniffen, schließlich erhellte sich ihr Blick. Ich
legte meine Hand in ihre, sie drückte mit kühlem und
trockenem Griff zu.
Ich wusste nicht, was ich erzählen sollte. Nervös und zu
laut beschrieb ich plappernd mein Leben mit Mann und Kind.
Ihr wimpernloser Blick ruhte auf mir und langsam fielen
ihre Augen zu. Ich wollte mich hastig verabschieden und
suchte nach Ausreden.
Ich weiß nicht, wieso, aber ein plötzlicher Impuls ließ
mich alte Kinderlieder anstimmen, die ich damals häufig mit
meinem kleinen Sohn sang. Sofort blickten mich ihre Augen
hellwach an, ein kindliches Lächeln erschien auf ihrem
Gesicht. Sie stimmte summend mit ihrem zittrigen Sopran in
die Melodie ein und unser Gesang tastete sich wackelig
durch den Raum.

Es war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.

(Für P. P.)

Erlösung

Der junge Mann im schwarzen Anzug hetzt durch den Wald. Sein Blick der eines gejagten Tiers. Immer wieder dreht er sich suchend um, alle paar Meter tastet er nach einem Gegenstand in seiner Hosentasche.

Er sucht den Treffpunkt und ist sich nicht mehr sicher, wo sie sich verabredet haben. Seine Schritte werden zögernd, unsicher. Er wechselt die Richtung, hält kurz inne und schlägt wieder einen neuen Kurs ein.

Er hat den Ort der Übergabe gefunden. Viel zu früh. Tief und schnell atmet er durch den geöffneten Mund, wie nach einem Dauerlauf. Er geht in kleinen Kreisen umher. Wird das Geld in einer dunklen Sporttasche liegen? Er freut sich über das Klischee. Ihm fällt ein, dass sie nicht über die Stückelung der Scheine gesprochen haben. Wieder kramt er in seiner Hosentasche. Er holt einen USB-Stick hervor, begutachtet ihn und steckt ihn zurück in die Tasche.

Dann können mich alle mal!“, seine Stimme überschlägt sich.

Und dann?-“ Zum ersten Mal kommt ihm diese Frage. Und niemand antwortet.

Er beginnt zu zittern. Suchend tastet er sein Jackett ab. Er sehnt sich nach einem knisternden kleinen Tütchen mit weißem Staub. Nur ein altes Nikotinkaugummi kommt zum Vorschein. Es gelingt ihm fast nicht, den zerbeulten Blister durchzudrücken.

Und wenn er gar kein Journalist ist?“, fragt der Mann den Baum neben sich. Der Baum antwortet nicht, er rauscht sachte mit seinen Blättern, als ginge ihn das alles nichts an.

Dann bin ich am Arsch.“ Der Mann lacht auf, sein Gesicht bleibt ernst. Die Zweige des Baumes nicken langsam im leisen Luftzug.

Er nimmt den USB-Stick aus der Tasche und dreht und wendet ihn mit fahrigen Bewegungen. Seine Nase läuft, er schnieft. Benutzt die Hand zum Abwischen und sieht, dass ihm Blut aus der Nase läuft. Fluchend sucht er in den Anzugtaschen, bis er eine fast leere Packung Taschentücher hervorzieht. Hastig, aber gründlich säubert er die Nase, das fleckige Tuch fällt zu Boden.

Der Mann überlegt. Dann entfernt er sich eilig. Nach ein paar Schritten hält er inne. Sein Körper erschlafft. Er beginnt zu weinen. Trockene Schluchzer rütteln an ihm, mit gebeugtem Kopf steht er da. Verloren. Alleine.

Seine Großmutter nimmt seinen Kopf zwischen ihre warmen Hände, sie streicht mit ihrem trockenen, rauen Daumen über seine Stirn und lächelt ihm zu. Er riecht den Duft nach Küche und Erde und atmet ihren Geruch tief ein.

Sein Blick bleibt an einem großen, mit Moos bewachsenen Baumstumpf hängen. Er setzt sich auf den Stamm. Vornübergebeugt, die Unterarme auf die Oberschenkel gestützt, stiert er geradeaus ins Leere, sein Schluchzen versiegt. Nach einer Weile beginnt er, einen Schuh zu öffnen. Langsam streift er ihn ab, dann den Strumpf. Sein wachsbleicher Fuß kommt zum Vorschein. Vorsichtig setzt der Mann den Fuß auf den Waldboden. Er tastet mit den Zehen das trockene Laub, kleine Ästchen. Ein schwarzer Käfer müht sich mit einer Kugel ab. Der Mann befreit auch den anderen Fuß von Schuh und Strumpf. Sein Atem ist ruhiger. Er setzt sich in den Schneidersitz und schließt die Augen.

Zweige knacken. Unregelmäßig und noch weit entfernt. Das Knacken fügt sich ein in die übrigen Waldgeräusche: das Hämmern eines Spechts, das Gurren einer Taube, das Knarzen von Ästen in den Baumwipfeln.

Die Großmutter beginnt sein Gesicht zu küssen und singt leise, ihren Mund dicht an seinem Ohr, sein liebstes Wiegenlied. Er muss lächeln.

Das schneidende, metallische Geräusch hört er nicht. Als der Schuss fällt, hält der Wald den Atem an. Aber nur für einen Augenblick. Gleich darauf widmet sich der Specht wieder dem Baumstamm. Die Taube, die zappelnd aufgeflattert war, kehrt zur ihrem Nest zurück. Der Mistkäfer hatte seine Arbeit an der Dungkugel gar nicht erst unterbrochen.

Espresso ans Bett

Opa wollte eingeäschert in einer Espressokanne beerdigt werden. Ich war beeindruckt von Opas Konsequenz, Mutti war außer sich. Sie gab sich ihrer Migräne hin und überließ die Sache mir, ihrem Sohn. Ihre Stimme am Telefon klang nach herunter gelassenen Jalousien und ich sah sie vor mir auf dem Sofa liegend, mit fahlem Gesicht. Ich googelte Urne, Espressokanne und clickte Besondere Asche-Urnen an. Unter Maßarbeit wurde ein enthusiastisches Team versprochen, das bestens auf alle Aufgaben im Urnenbereich vorbereitet sei. Ich fand, das hörte sich genau richtig an.

Der graue Mann drückt mir sein Beileid aus. Dabei beugt er den Kopf, lächelt irgendwie tapfer und ich glaube, er ist kurz davor, meine Hände mit seinen zu umschließen. „Wenn Sie mir folgen, im Büro ist es gemütlicher“. Der Bestatter platziert mich auf den schweren Stuhl vor dem Schreibtisch, bevor er sich gegenüber setzt. Gefaltete Hände auf staubfreiem Tisch. Gedeckte Farben an nackten, rauh verputzten Wänden, rücksichtsvolles dunkelgrau mit burgunderrot, ein paar Regale aus dunkelbraunem Holz. Darin Urnen in verschiedenen Größen und Optiken. Ich friere. Vermutlich ist es nicht sinnvoll, im Bestattungshaus zu heizen. Wir sind in der Lage, eigentlich alle Wünsche umzusetzen.“ Er weist auf ein Regal hinter sich. Prospekte in Hochglanzoptik. “Und glauben Sie mir, es gibt unvorstellbare Wünsche von Verstorbenen oder Angehörigen.“ Dazu wieder dieses tapfere Lächeln mit zusammengepressten Lippen. Fehlt nur, dass er zwinkert.Das ist gut,“ sage ich. Ich finde, jetzt hat er ein bisschen Zuspruch verdient. Alleine für dieses Lächeln. Das soll wahrscheinlich aufbauend wirken. Muss ich mir mal merken und bei Gelegenheit anbringen. Vielleicht wenn ich Inka sage, dass sich auf ihrem Laptop leider ein Virus breit gemacht hat, der sich darin bemerkbar macht, dass er Bilder mit nackten Brüsten aufpoppen lässt, sobald der Browser geöffnet wird. Schließt man ein Bild, taucht sofort ein neues auf. Das ist ärgerlich, passierte aber nur, weil ich Fred den Rechner geliehen hatte, als sie bei ihrer Fortbildung war. Fred hat mir geschworen, dass er nicht auf zweifelhaften Seiten war. Mir fällt Opas Hüftgelenk ein. Ich frage mich, was damit passiert. Wird so ein Gelenk wiederverwertet? Gibt man das an Bedürftige weiter? Wie einen abgelegten Mantel? Gibts dafür eine Börse? Ebay-Kleinanzeigen? Muss ich bei Gelegenheit mal nachsehen. Jedenfalls besteht das Ding aus Metall und Keramik, mit einem bisschen Plastik. Da muss man ja auch nachhaltig denken, meine ich.Er möchte verbrannt werden und seine Asche soll in einer Espressokanne aufbewahrt werden. Ich weiß nicht ob das funktioniert, er hat ein künstliches Hüftgelenk.“ Der Mann nickt. „Da darf ich sie beruhigen. Künstliche Gelenke stellen für uns kein Problem dar.“ Aber ob man sie recyclen kann, weiß er auch nicht. Die Sache mit der Espressokanne als Urne kommt mir persönlich ein bisschen übertrieben romantisch vor. Ich bin da eher der nüchterne Typ. Inka gottseidank auch. Sie fänd es sicher total albern, wenn ich ihr jetzt zum Beispiel plötzlich einfach so Blumen mitbringen würde. Glaube ich.

Opa und seine große Jugendliebe hatten sich im hohen Alter wiedergetroffen, als beide frisch verwitwet waren. Auf die Gefühle der jeweiligen Familienmitglieder gepfiffen und sofort Nägel mit Köpfen gemacht. Das nenne ich mal sein Ding durchziehen. Mutti fand andere Worte. „Demenz“ und „Schlampe“ waren die harmloseren. Jeden morgen hatte Opa seiner Liebsten Espresso ans Bett gebracht, den er in so einer kleinen italienischen Kanne zubereitet hatte. Sie verreisten sogar mit der Kanne. Immer wenn ich die beiden besuchte, stand sie zum Trocknen auf der Ablage der Spüle, abends stellte Opa sie neben den Herd, zusammen mit Espressopulver und Messlöffel. Seit ihrem Tod vor einem halben Jahr musste ich die Kanne meistens von eingetrockneten Kaffeeresten befreien, wollte ich uns einen Espresso kochen. Bei meinen letzten Besuchen hatte sich eine Staubschicht auf der Kanne gebildet und er winkte nur noch müde ab, wenn ich ihm einen Kaffee anbot. Ich kann nicht sagen, dass er mir fehlt. Er war schon lange nicht mehr Teil meines Alltags und zum Schluss war er häufig traurig wenn ich ihn besuchte. Aber seinen letzten Wunsch, den soll er haben.

Der Bestatter räuspert sich und hält mir einen schweren Kugelschreiber hin. Ich unterschreibe und gehe. Meine Augen brennen, sicher wegen der kalten Luft. Ich werde sie fragen, ob sie morgens mit Espresso geweckt werden möchte.

Die Prüfung

»Was fällt ihnen denn noch so ein zu diesem Thema ….? Können sie mir erzählen, in welcher Reihenfolge sie das prüfen und worauf sie besonders achten müssen?« Der Vorsitzende der Prüfungskommission sieht von seinen Unterlagen auf und lässt seinen Lesebrillenblick auf ihr ruhen. Senta bittet, die Frage noch einmal zu stellen. Ihr Kopf leer und gleichzeitig voller Lärm. Sie hört, wie die anderen Prüflinge unruhig auf ihren Stühlen rutschen, aus der Zuschauerreihe hinter ihr kommt Getuschel. Husten. Räuspern. Sie betrachtet ihre Fingernägel, zupft die Ärmel ihres Shirts unter dem Bündchen des Blazers hervor. Blättert in ihrem Gesetz, in der Hoffnung ein Stichwort zu finden.

Sie fragt sich, wer hier eigentlich die Nachlieferungen in die Loseblattsammlungen sortiert. Justizangestellte? Bibliothekare? Studentische Hilfskräfte? Früher, während ihres Studentenjobs in der Rechtsabteilung eines Unternehmens hat sie ganze Arbeitstage damit verbracht, für jeden der neun Juristen unberührtes, hauchdünnes Papier in der richtigen Reihenfolge in dicke rote Sammelordner zu heften, nachdem sie zuvor ebenso unberührtes, hauchdünnes Papier herausgenommen hatte. Senta war sicher, dass auch diese Seiten nie gelesen werden würden. Ihr Arbeitsplatz befand sich im Sekretariat der Justiziarin. Die Sekretärin galt als harter Knochen, die Justiziarin als wankelmütig, aufbrausend und alkoholkrank. Senta mochte sie beide, Sekretärin und Justiziarin – wahrscheinlich als einzige der gesamten Abteilung. Beide strahlten Macht aus. Zivilisiert, kühl und berechnend die Sekretärin. Wild, dominant und laut die Justiziarin. Hin und wieder betrat einer der Juristen den Vorraum. Meist waren sie von der Chefin herbeizitiert worden und wussten nicht genau, was sie erwartete. Nach vergeblichen Versuchen, von der Sekretärin einen Hinweis auf die aktuelle Stimmung hinter der verschlossenen Tür zu erhalten, kamen sie häufig zu Sentas Tisch und riefen mit zu lauter Stimme »Na, das ist aber toll, dass Sie unseren Laden hier so auf Zack halten«. Oder »Mensch, können Sie denn überhaupt noch geradeaus sehen, bei den kleinen Buchstaben?«. Alles in allem ein wirklich schöner Job.

Sie wendet ihre Notizen, als hätte sie sich zur Frage des Prüfers vorbereitet und ihre Gedanken in Worte gefasst. Sie räuspert sich und blickt dem Professor ins Gesicht. Wiederholt die Frage. Und schweigt. Versucht dabei, nett, freundlich und nicht zu verzweifelt zu wirken. Im Saal entsteht wieder ein Geräusch. Als ob man Ungeduld hören könnte. Der Prüfer stellt seine Frage nochmal. Zum dritten mal. Er hätte ebenso fragen können, warum sie Jura studiert hatte. Was sie später machen wollte. Nie kann sie diese Fragen beantworten. Sie gibt sich Mühe, salopp zu klingen, als sie sagt: »Das weiß ich auch nicht.«.

Sie atmet tief durch und verlässt den Prüfungssaal. Nicht bestanden. In ihrem Kopf nur der eine Satz, »Ich bin Abiturientin«. Die schwere Tür aus dunklem Holz kracht donnernd und mit Ausrufezeichen ins Schloss. Der Geruch nach Schmierseife und Akten, nach Schweiß und Verwaltung kommt ihr entgegen, kriecht ihr durch die Nase direkt in den Magen. Erwartungsvolle Gesichter halten mitten in der Frage inne, verstummen. Die Sektflasche, schon vom Metall befreit und eben noch hochgehalten, sinkt in Zeitlupe herunter. Leere, weiße Plastikbecher werden vom Zugwind der Tür umgeweht und fallen zu Boden.

Es tut ihr leid, dass die Freunde umsonst gewartet und Daumen gedrückt haben. Dass sie sich so viel Mühe gegeben haben und mit Sekt und Bechern hier stehen. Dass alle so ratlos und traurig sind. Sie sucht nach aufmunternden Worten und findet keine. Stattdessen lässt sie die Hilflosigkeit der anderen über sich ergehen. Er hat es nicht mal heute geschafft, rechtzeitig zu erscheinen. Eigentlich gut, dass er jetzt nicht hier ist, denkt Senta. Und sie sowieso nicht versteht.

Ihr Zusammensein ist zu einer Folge von sarkastischen Bemerkungen und gegenseitigem Betrug in immer kürzeren Abständen geworden. Manchmal gibt es sie noch, Momente der Nähe. Der Freundschaft. Dann bestätigen sie sich ihre stabile Beziehung. Oft ist sie zynisch, bitter und verletzend. Hat sie ihn besonders getroffen, fühlt sie immerhin einen Rest Stärke. Danach weint sie sich meistens in den Schlaf. Die Anspannung vor dem Examen, denkt sie. Sie bittet ihre Freunde um Verständnis, dass sie jetzt alleine sein möchte. »Ich will nur schlafen.«

Die Kneipenwände sind mit dunklem Holz vertäfelt, Plakate mit Konzertankündigungen, auf den Tischen mit hellen Holzplatten herunter getropfte Kerzen, Balladen aus den Lautsprechern. Wahrscheinlich Kuschelrock 100. Es riecht nach abgestandenem Bier und kaltem Rauch. Der Laden ist so gut besucht, dass es ihr nichts ausmacht, ein Bier zu bestellen. Sie blickt auf Lederwestenrücken, einige mit bunten Abnähern. Biker oder Rocker. Sie weiß noch nicht, ob ihr das Bier schmeckt. Normalerweise immer ab dem dritten. Am linken Arm der Kellnerin ein schwarzes Lederarmband, darunter steckt ein Bleistift, der in Richtung Ellbogen zeigt. Ihre tiefe Stimme passt nicht zur Püppchenfigur. »Zwei Alt, Liebchen«, auf dem Bierdeckel drei schwarze Striche. Sie sieht aus den Augenwinkeln wie sich zwei Männer gegenseitig anstoßen.

Sie wacht auf. Es ist noch dunkel, Morgengeräusche im Haus. Ihr ist kalt und es riecht nach Fahne und altem Zigarettenrauch. Das Bettzeug, mit zarten Streublümchen übersäht, liegt wie eine Grenze zwischen ihnen. Grau und klamm. Von der anderen Seite dröhnt lautes Schnarchen aus einem nackten großen, blassen Körper. Gestern Abend hatte sie sich in diese tätowierten Arme fallen lassen. Leider hat sie zu wenig getrunken, sie erinnert sich an Einzelheiten. Nur nicht an den Namen. Alles dreht sich. Sie hält nach jeder Bewegung inne, bis der Atem des Mannes wieder gleichmäßig ist. So schafft sie es, sich auf die Bettkante zu setzen und aufzustehen, ohne dass das Schnarchen aufhört. Ihre Klamotten und die Tasche auf einem Haufen neben dem Bett. Das kriegt sie irgendwie immer hin, alles zusammen, damit sie auch im Dunkeln schnell ihre Sachen findet.

Im Treppenhaus das Jaulen der Müllwagen durch das geöffnete Tor, Abfalltonnen werden polternd hin und her gewuchtet. Die Geschäftigkeit des neuen Tages lindert ihren Kater. Beim Büdchen kauft sie Wasser, Brötchen und Kaffee. Sie geht am Rhein entlang. Am Tag danach. Und alles ist endlich klar.

Spaziergang

Ich gehe an unserer Häuserreihe vorbei auf dem gepflasterten Weg und überquere die gepflasterte Straße, die durch unser gepflastertes Wohngebiet führt. Menschen oder Autos begegnen mir hier fast nie. Durchdringendes Donnern einer Bohrmaschine oder so aus einem der Häuser. Irgendein Nachbar renoviert eigentlich immer irgendwas, meist steht dann kurze Zeit später ein Lieferwagen des regionalen Küchenspezialisten oder Bäderprofis vor dem Haus, kurz danach Sperrmüllberge mit herausgerissenen Küchen-/ Bädereinrichtungen. Alles fast noch neu. Wenn nicht renoviert wird, dröhnt ein Laubbläser vor sich hin oder ein Hochdruckreiniger, um die Pflastersteine bis zur Grundstücksgrenze von Moos oder was auch immer zu befreien. Deswegen ist der kleine Fußweg hier auch längs geteilt in eine hellgraue und eine dunkelgraue Seite. Oder ein Rasenmäher bearbeitet einsam irgendeine Rasenfläche, die ich nicht sehe, die es aber hinter dichten Kirschlorbeer- oder Bambushecken geben muss. Rasenmäher aber eher Freitags. Heute ist Montag, also kein Rasenmäher.

Hinter der nächsten Häuserzeile eröffnet sich eine alte Obstwiese, es wird hell und grün, Steinchen knirschen unter den Füßen, Amseln und andere braune kleine Vögel sitzen auf schwarzen blattlosen Bäumen und spielen Frühling. Sofort setzt bei mir der Reflex ein tief durchzuatmen.

Manchmal kommen mir Best-Ager mit angeleinten Hunden entgegen. Die Hunde sind zu groß für diese Leute. Oder die Leute zu alt. Herrchen oder Frauchen lächelt mich dankbar an, weil ich vorbeigehe und kein Problem mit Hunden habe. Ein Stück weiter, nachdem ich an einem verrosteten Spielplatz unter Kastanienbäumen vorbei komme, schließt sich ein kleines Tal an, eingebettet zwischen einem Weinberg auf der einen und Wald auf der anderen Seite. Immer wieder beglückwünsche ich mich, so nah an diesem weiten Blick zu wohnen. Mildert das Beton-Ghetto-Gefühl.

Der Garten

Schaut man aus unserem Wohnzimmerfenster ist das auffälligste, dass unsere Nachbarn von gegenüber uns genau in Garten und Wohnung schauen, sofern sie aus ihren Fenstern blicken.

Der Garten wirkt herbstverwahrlohst und kinderverlassen. Er wird begrenzt vom Reihenmittelhaus, in dem wir wohnen, den Nachbargrundstücken links – durch eine mannshohe Hecke – und rechts – durch einen schmalen Streifen mit verschiedenen Pflanzen – und einem sterilen bunkerartigen Gartenhäuschen aus graugespritztem Stahl, das vor einem Maschendrahtzaun steht. Neben dem Häuschen ein umgefallener Sack für Grünschnitt, aus dem ein paar lange Zweige mit welken Blättern ragen. In der Mitte des kleinen Stücks mit platt getrampeltem Rasen wartet ein verwaistes Holzpferd auf Beachtung, Kinder haben drei Geschirrtücher darauf gelegt, nun mit Reif bedeckt.

Direkt am Haus eine gepflasterte Terrasse mit ein paar achtlos platzierten Möbeln, einem Grill und einem zusammengebundenen Sonnenschirm. Die Gartenmöbel aus Holz haben bessere Zeiten gesehen, auf einer Bank liegen helle Kissen mit Stockflecken. An der linken Seite der Terrasse stehen ein paar hoffnungslose Kräuter in schäbigen Töpfen und kargen Boden. Rechts von der Terrasse verrenkt sich ein kleiner nackter Baum frierend in die Höhe.

Hinter dem Maschendrahtzaun führt ein schmaler Fußweg vorbei, auf dem man selten einen Menschen sieht. Überquert man ihn, steht man vor der Haustür des gegenüberliegenden Hauses der gegenüberliegenden Reihe. Das ist der Ausblick aus dem Wohnzimmerfenster unseres Hauses.

Öffnet man das Fenster hört man hin und wieder das Quietschen der Mülltonnen-Behälter aus Waschbeton, einen Laubbläser und ein paar Amseln, die in der Hecke wohnen. Mehrere überdimensionierte Katzen, seltsamerweise alle schwarz-weiß oder grau-weiß gefleckt, schleichen lautlos durch die Gärten und Beton-Landschaften unseres Viertels. Hin und wieder hört man Gezanke und Schimpftiraden aus dem angrenzenden Mietshochhaus, alle zwei Wochen dröhnt der Müllwagen durch die engen Sträßchen. Die Straßen in unserem Viertel sind als Spielstraßen ausgewiesen, Kinder hört man jetzt im Herbst nie. Nur kurz gegen 16 Uhr, wenn Schule, Hort und Kindergärten schließen.

Morgens hört man Gebrüll vom Nachbarn rechts. Wenn man jemanden sieht, ruft man sich ein aufgeräumtes Guten Morgen zu. Als wir neu eingezogen waren, hat mich immer wieder das Gefühl beschlichen, in der Trueman-Show gelandet zu sein.

Mittlerweile sehe ich nicht mehr nur die gesichtslosen uniformen Häuser in der Betonwüste, sondern die Menschen, die dort wohnen. Mit einigen hält man ein Schwätzchen, mit anderen wechselt man ein Kopfnicken, anderen wünscht man zu Weihnachten sogar Frohe Feiertage und tauscht Schokoladennikoläuse für die jeweils anderen Kinder.