Lied für Hilde

Manchmal lauerte Oma Hilde mir nach der Schule im
Treppenhaus auf. Sie hatte ihre köstlichen Reibekuchen für
mich gebacken. Nur für mich, mein Bruder war ihr zu wild
und meine Schwester zu klein. Während ich die knusprigen
Puffer in mich reinstopfte und den Geschmack von Kartoffeln
und Rübensirup auf der Zunge spürte, sah sie mir aus
kleinen, wimpernlosen Augen dabei zu.
Ihr Haar trug sie wie eine griechische Witwe: blauschwarze
Wellen mit einem silbernem Streifen am Ansatz. Wenn er zwei
Finger breit geworden war, verschwand dieser Streifen für
ein paar Wochen. Sie kleidete sich mit schlichten,
unförmigen Röcken, fessellose Beine steckten in hellen
Nylonstrümpfen, bestrumpfte Zehen lugten aus offenen
Hausschuhen.
Ich kaute und schluckte. Ich leckte mir die fettigen
Finger ab und dachte an meinen armen Bruder und an
meine arme Schwester, die nichts davon bekommen sollten und
an meine arme Mutter, die nie lernen würde, solche
Reibeplätzchen zu machen. In meinem Bauch wuchs ein fester
Klumpen.
Später dachte ich mir Ausreden aus, wenn meine Oma mir
wieder auflauerte. Murmelte „Diät“ oder „Magenvirus“ und
huschte, zu Boden blickend, an ihr vorbei. Ich spürte ihren
enttäuschten Blick in meinem Nacken.
Ich besuchte meine Oma gerne, ihre kleinen dunklen Räume
waren vollgestopft mit zu großen, schweren Möbeln und es
duftete nach 4711 und grüner Fa-Seife. An den Wänden und
auf Ablagen naive Bilder von Engeln und der Heiligen Maria
neben der schaurigen Skulptur des gekreuzigten Jesus. Dazu
ausgekochte Jagdtrophäen von Rehböcken. Ab Sendebeginn lief
das ZDF und das Wenige, was meine Oma von der Welt wissen
wollte, ließ sie sich von der Drehscheibe, Wim Thoelke oder
Dieter Thomas Heck erklären.
Einmal, ich muss fünf Jahre alt gewesen sein, hatte ich
irgendwo ein Hakenkreuz gesehen. Ich malte Dutzende davon
mit größter Sorgfalt auf mein Malpapier. Meine Mutter sog
scharf die Luft durch ihre Zähne, als ich ihr mein Werk
zeigte. Ich spürte, dass ich auf etwas Großes gestoßen war.
Ihre Erklärung mit ernstem Gesicht bestand vor allem aus
„ganz, ganz schlimm“, „Hitler“ und „Krieg“.
Ich war begeistert von der Wirkung meiner Zeichnungen und
wollte herausfinden, wie meine Oma darauf reagieren würde.
Sie blieb enttäuschend unbeeindruckt. Ich versuchte, ihr
auf die Sprünge zu helfen, wiederholte die Erklärungen
meiner Mutter. Da sagte sie ohne Ironie, mit feierlichem
Ernst: „Bei Hitler war nicht alles schlecht. Ohne ihn gäbe
es keine Autobahn!“.
Wenn meine Eltern gemeinsam ausgingen, passte meine Oma auf
uns auf. Das bedeutete länger aufbleiben und fernsehen.
Mainzelmännchen und vielleicht die ZDF-Hitparade.
Sie betrachtete uns, wie wir fröhlich unsere Limo
schlürften. „Eine Mutter bleibt bei ihren Kindern“, sagte
sie und schüttelte finster ihren Kopf.
Zwar kamen meine Eltern jedes Mal gesund zurück. Aber in
jenen Nächten erwachte ich immer mit rasendem Herzen.
Unsere große Wohnung lag verlassen in dunkelgrauer Stille.
Im Schlafzimmer meiner Eltern gähnte mich das leere und
riesige Ehebett an. Der schwache Duft nach meiner Mutter
und die Kuhle im Kopfkissen meines Vaters ließen mich
winzig klein fühlen. Ich habe es nie geschafft, mich in den
Schlaf zu weinen.
Einmal beschloss ich in einer solchen Nacht, ins Bett
meiner Oma zu kriechen. Ich betrachtete sie, nachdem ich
zuvor die schwere Schiebetür aus Glas geöffnet hatte und
die große Treppe hinuntergeschlichen war. Diese schlafende
Frau dort im Bett war mir so fremd. Ich verließ das Zimmer
auf Zehenspitzen.
An Heiligabend besuchte unsere ganze Familie meine Oma. Es
gab Plätzchen und Limo und Sekt. Hilde setzte sich an ihr
verstimmtes Klavier und spielte pathetisch und schleppend.
Sie bekam rote Bäckchen und feuchte Augen und strahlte. Ihr
zittriger Sopran brachte uns zum Kichern.

Nachdem wir alle schon längst nicht mehr unter einem Dach
lebten, lag sie in einem Bett im Pflegeheim. Wir hatten uns
seit Jahren nicht mehr gesehen und es wurde Zeit, sie zu
besuchen. Ihr Haar trug sie jetzt länger und schneeweiß,
ihr Gesicht war durch die Medikamente und das Liegen größer
geworden und sie sprach nicht mehr. Ihre unruhigen Augen
folgten mir durch den Raum – zuerst misstrauisch
zusammengekniffen, schließlich erhellte sich ihr Blick. Ich
legte meine Hand in ihre, sie drückte mit kühlem und
trockenem Griff zu.
Ich wusste nicht, was ich erzählen sollte. Nervös und zu
laut beschrieb ich plappernd mein Leben mit Mann und Kind.
Ihr wimpernloser Blick ruhte auf mir und langsam fielen
ihre Augen zu. Ich wollte mich hastig verabschieden und
suchte nach Ausreden.
Ich weiß nicht, wieso, aber ein plötzlicher Impuls ließ
mich alte Kinderlieder anstimmen, die ich damals häufig mit
meinem kleinen Sohn sang. Sofort blickten mich ihre Augen
hellwach an, ein kindliches Lächeln erschien auf ihrem
Gesicht. Sie stimmte summend mit ihrem zittrigen Sopran in
die Melodie ein und unser Gesang tastete sich wackelig
durch den Raum.

Es war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.

(Für P. P.)

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