Die Prüfung

»Was fällt ihnen denn noch so ein zu diesem Thema ….? Können sie mir erzählen, in welcher Reihenfolge sie das prüfen und worauf sie besonders achten müssen?« Der Vorsitzende der Prüfungskommission sieht von seinen Unterlagen auf und lässt seinen Lesebrillenblick auf ihr ruhen. Senta bittet, die Frage noch einmal zu stellen. Ihr Kopf leer und gleichzeitig voller Lärm. Sie hört, wie die anderen Prüflinge unruhig auf ihren Stühlen rutschen, aus der Zuschauerreihe hinter ihr kommt Getuschel. Husten. Räuspern. Sie betrachtet ihre Fingernägel, zupft die Ärmel ihres Shirts unter dem Bündchen des Blazers hervor. Blättert in ihrem Gesetz, in der Hoffnung ein Stichwort zu finden.

Sie fragt sich, wer hier eigentlich die Nachlieferungen in die Loseblattsammlungen sortiert. Justizangestellte? Bibliothekare? Studentische Hilfskräfte? Früher, während ihres Studentenjobs in der Rechtsabteilung eines Unternehmens hat sie ganze Arbeitstage damit verbracht, für jeden der neun Juristen unberührtes, hauchdünnes Papier in der richtigen Reihenfolge in dicke rote Sammelordner zu heften, nachdem sie zuvor ebenso unberührtes, hauchdünnes Papier herausgenommen hatte. Senta war sicher, dass auch diese Seiten nie gelesen werden würden. Ihr Arbeitsplatz befand sich im Sekretariat der Justiziarin. Die Sekretärin galt als harter Knochen, die Justiziarin als wankelmütig, aufbrausend und alkoholkrank. Senta mochte sie beide, Sekretärin und Justiziarin – wahrscheinlich als einzige der gesamten Abteilung. Beide strahlten Macht aus. Zivilisiert, kühl und berechnend die Sekretärin. Wild, dominant und laut die Justiziarin. Hin und wieder betrat einer der Juristen den Vorraum. Meist waren sie von der Chefin herbeizitiert worden und wussten nicht genau, was sie erwartete. Nach vergeblichen Versuchen, von der Sekretärin einen Hinweis auf die aktuelle Stimmung hinter der verschlossenen Tür zu erhalten, kamen sie häufig zu Sentas Tisch und riefen mit zu lauter Stimme »Na, das ist aber toll, dass Sie unseren Laden hier so auf Zack halten«. Oder »Mensch, können Sie denn überhaupt noch geradeaus sehen, bei den kleinen Buchstaben?«. Alles in allem ein wirklich schöner Job.

Sie wendet ihre Notizen, als hätte sie sich zur Frage des Prüfers vorbereitet und ihre Gedanken in Worte gefasst. Sie räuspert sich und blickt dem Professor ins Gesicht. Wiederholt die Frage. Und schweigt. Versucht dabei, nett, freundlich und nicht zu verzweifelt zu wirken. Im Saal entsteht wieder ein Geräusch. Als ob man Ungeduld hören könnte. Der Prüfer stellt seine Frage nochmal. Zum dritten mal. Er hätte ebenso fragen können, warum sie Jura studiert hatte. Was sie später machen wollte. Nie kann sie diese Fragen beantworten. Sie gibt sich Mühe, salopp zu klingen, als sie sagt: »Das weiß ich auch nicht.«.

Sie atmet tief durch und verlässt den Prüfungssaal. Nicht bestanden. In ihrem Kopf nur der eine Satz, »Ich bin Abiturientin«. Die schwere Tür aus dunklem Holz kracht donnernd und mit Ausrufezeichen ins Schloss. Der Geruch nach Schmierseife und Akten, nach Schweiß und Verwaltung kommt ihr entgegen, kriecht ihr durch die Nase direkt in den Magen. Erwartungsvolle Gesichter halten mitten in der Frage inne, verstummen. Die Sektflasche, schon vom Metall befreit und eben noch hochgehalten, sinkt in Zeitlupe herunter. Leere, weiße Plastikbecher werden vom Zugwind der Tür umgeweht und fallen zu Boden.

Es tut ihr leid, dass die Freunde umsonst gewartet und Daumen gedrückt haben. Dass sie sich so viel Mühe gegeben haben und mit Sekt und Bechern hier stehen. Dass alle so ratlos und traurig sind. Sie sucht nach aufmunternden Worten und findet keine. Stattdessen lässt sie die Hilflosigkeit der anderen über sich ergehen. Er hat es nicht mal heute geschafft, rechtzeitig zu erscheinen. Eigentlich gut, dass er jetzt nicht hier ist, denkt Senta. Und sie sowieso nicht versteht.

Ihr Zusammensein ist zu einer Folge von sarkastischen Bemerkungen und gegenseitigem Betrug in immer kürzeren Abständen geworden. Manchmal gibt es sie noch, Momente der Nähe. Der Freundschaft. Dann bestätigen sie sich ihre stabile Beziehung. Oft ist sie zynisch, bitter und verletzend. Hat sie ihn besonders getroffen, fühlt sie immerhin einen Rest Stärke. Danach weint sie sich meistens in den Schlaf. Die Anspannung vor dem Examen, denkt sie. Sie bittet ihre Freunde um Verständnis, dass sie jetzt alleine sein möchte. »Ich will nur schlafen.«

Die Kneipenwände sind mit dunklem Holz vertäfelt, Plakate mit Konzertankündigungen, auf den Tischen mit hellen Holzplatten herunter getropfte Kerzen, Balladen aus den Lautsprechern. Wahrscheinlich Kuschelrock 100. Es riecht nach abgestandenem Bier und kaltem Rauch. Der Laden ist so gut besucht, dass es ihr nichts ausmacht, ein Bier zu bestellen. Sie blickt auf Lederwestenrücken, einige mit bunten Abnähern. Biker oder Rocker. Sie weiß noch nicht, ob ihr das Bier schmeckt. Normalerweise immer ab dem dritten. Am linken Arm der Kellnerin ein schwarzes Lederarmband, darunter steckt ein Bleistift, der in Richtung Ellbogen zeigt. Ihre tiefe Stimme passt nicht zur Püppchenfigur. »Zwei Alt, Liebchen«, auf dem Bierdeckel drei schwarze Striche. Sie sieht aus den Augenwinkeln wie sich zwei Männer gegenseitig anstoßen.

Sie wacht auf. Es ist noch dunkel, Morgengeräusche im Haus. Ihr ist kalt und es riecht nach Fahne und altem Zigarettenrauch. Das Bettzeug, mit zarten Streublümchen übersäht, liegt wie eine Grenze zwischen ihnen. Grau und klamm. Von der anderen Seite dröhnt lautes Schnarchen aus einem nackten großen, blassen Körper. Gestern Abend hatte sie sich in diese tätowierten Arme fallen lassen. Leider hat sie zu wenig getrunken, sie erinnert sich an Einzelheiten. Nur nicht an den Namen. Alles dreht sich. Sie hält nach jeder Bewegung inne, bis der Atem des Mannes wieder gleichmäßig ist. So schafft sie es, sich auf die Bettkante zu setzen und aufzustehen, ohne dass das Schnarchen aufhört. Ihre Klamotten und die Tasche auf einem Haufen neben dem Bett. Das kriegt sie irgendwie immer hin, alles zusammen, damit sie auch im Dunkeln schnell ihre Sachen findet.

Im Treppenhaus das Jaulen der Müllwagen durch das geöffnete Tor, Abfalltonnen werden polternd hin und her gewuchtet. Die Geschäftigkeit des neuen Tages lindert ihren Kater. Beim Büdchen kauft sie Wasser, Brötchen und Kaffee. Sie geht am Rhein entlang. Am Tag danach. Und alles ist endlich klar.